Die Bedeutung:
Bevor Sie die folgende Interpretation lesen, sollten Sie wissen, dass es zwei verschiedene Denkschulen über die Bedeutung der Lilie gibt. Nach einer davon repräsentiert die Lilie Reinheit und Tugend. Der anderen zufolge steht die Lilie für Sex und Sinnlichkeit. Ich glaube nicht, dass diese beiden Themenbereiche unvereinbar sind; Tugend und Sinnlichkeit können definitiv koexistieren. Aber ich glaube auch, dass sie zwei jeweils ganz eigene, unabhängige Themenbereiche sind. Dies ist der Grund, warum ich selbst nicht beide Deutungen für die gleiche Karte benutze, und warum es mir unmöglich war, ein Bild zu malen, das beide im gleichen Maß veranschaulicht. Also beschloss ich, zwei separate Lilienkarten zu zeichnen. Die Version, die Sie im Moment sehen, ist die tugendhafte Lilie. Die sinnliche Lilie finden Sie>> hier!
Tugendhaftigkeit / die Tugenden: Zuallererst bedeutet die Lilie Tugendhaftigkeit im allgemeinen und jede bestimmte Tugend, die uns einfällt. Sie kann zu Beispiel für die klassischen Kardinaltugenden Mäßigkeit, Gerechtigkeit, Klugheit und Tapferkeit stehen. Aber es gibt noch viele Qualitäten mehr, die man als tugendhaft bezeichnen kann - zum Beispiel Güte, Würde, Selbstdisziplin, Genügsamkeit, Pflichtbewusstsein und Ehrlichkeit, oder Mitgefühl, Mitfreude. Im Grunde repräsentiert die Lilie alle Qualitäten, die die Fragestellerin als tugendhaft betrachtet, alle Qualitäten, die uns tatsächlich moralisch gesehen zu besseren Menschen machen, und ganz spezifisch jene Tugenden, die für den Kontext der Fragestellung relevant sind.
Eine tugendhafte Person zu sein ist gut. Allerdings kann es auch sein, dass wir beginnen, auf unsere Tugendhaftigkeit stolz zu sein, oder anderen Menschen Moralpredigten zu halten. Die Lilie kann auch das repräsentieren: Moralapostel, Tugendbolzen. In diesem Sinne kann sie als Warnung interpretiert werden, selbstgefällige Moralität abzulegen.
Weisheit: Aristoteles' Herangehensweise an Tugend zeigt etwas interessantes auf: Tugendhaftigkeit benötigt ein bestimmtes Ausmaß an Weisheit. Nach Aristoteles ist ein wahrhaft tugendhafter Akt nur einer, bei dem man nicht nur das rechte Ding tut, sondern auch zur rechten Zeit, in Bezug auf die rechte Person, auf die rechte Art, und aus dem rechten Grund. Ein Beispiel: Wenn wir einer armen Person Geld geben, um jemand anderen zu beeindrucken - war dies nun ein Akt der Großzügigkeit oder nicht? Oder wenn wir versuchen, eine trauernde Person zu trösten, indem wir unser eigenes Leid mit ihr teilen, sie sich aber kein bisschen besser fühlt. Gute Absichten hin oder her, war dies nun wirklich ein Akt des Mitgefühls? Aristoteles' komplexe Definition von wahrer Tugendhaftigkeit zeigt, dass wir, um wirklich tugendhaft zu sein, eine ordentliche Portion Selbsterkenntnis und Lebenserfahrung benötigen, und den Willen, beide korrekt auf ganz bestimmte, moralisch relevante Situationen anzuwenden. In anderen Worten: Um wirklich tugendhaft zu sein, brauchen wir ein gewisses Ausmaß an Weisheit. Vielleicht ist deshalb die Weisheit ein so wichtiger Teil der traditionellen Bedeutung der Lilie!
Reinheit / Rechtschaffenheit / Sauberkeit: Eine weitere wichtige traditionelle Bedeutung der Lilie ist Reinheit. Ich vermute, dass "Reinheit" traditionell allerdings auch als "Jungfräulichkeit" gemeint war. Aber die Idee, dass Sex zu haben eine Person in irgendeiner Weise "beschmutzt", sie "unrein" macht, ist mir zuwider. In den seltenen Fällen, in denen beim Kartenlegen Jungfräulichkeit tatsächlich eine Rolle spielt, würde ich diese eher im Kind sehen, wo sie ganz einfach Unerfahrenheit bedeutet, ganz ohne die Konnotation von "unbeschmutzt", die sie bei der Lilie hätte.
Aber ich kann durchaus sehen, dass "Reinheit" sich auch auf die Reinheit des Herzens, der Gedanken beziehen kann. Hier würde die Lilie bedeuten, dass jemand keinen Hass hat, nicht schaden möchte, kurz, dass er ehrliche, gute Absichten hat, offen und ehrlich ist, rechtschaffen ist. Und jemand kann auch "rein" sein im Sinne von unschuldig bzw. schuldlos. So gesehen steht die Lilie für ein reines Gewissen. Auf sehr materielle Weise könnte die Lilie auch wörtlich für Sauberkeit stehen - für alles, das physisch frei ist von Schmutz.
Unparteilichkeit / Bescheidenheit / Demut: Als ich darüber nachdachte, auf welche verschiedene Arten eine Person "rein" sein kann, stieß ich auf eine weitere Bedeutungsebene der Lilie, die sich als sehr nützlich herausstellte. Unser Denken kann "rein" sein in dem Sinn, dass keine vorgefertigten Meinungen, Vorurteile, Parteiergreifungen, unsere Wahrnehmung der Welt zu sehr einfärben. Wenn wir vorurteilsfrei und unparteiisch sind, können wir viel besser wahrnehmen, was wirklich ist, und gerecht und zum Besten aller handeln. Deshalb ist Unparteilichkeit moralisch sehr relevant.
Sehr nahe damit verwandt sind Bescheidenheit und Demut. Damit wir überhaupt verstehen, warum wir Unparteilichkeit üben sollen, müssen wir bescheiden genug sein zu wissen, dass wir nicht perfekt sind, dass unsere Sichtweise immer falsch sein könnte, dass wir vielleicht etwas übersehen oder von etwas geblendet sein könnten. Wir brauchen Demut, um uns eingestehen zu können, wenn das der Fall ist, und um unser Denken und Handeln dementsprechend anzupassen. Wenn die Lilie in einer Legung auftaucht, kann man sie also als eine Aufforderung sehen, sich die eigenen Vorurteile anzusehen, unparteilicher zu werden. Sie kann eine bescheidene Haltung, einen demütigen Standpunkt, repräsentieren.
Friedfertigkeit / Friede / Zufriedenheit: Diese Bedeutungsebene der tugendhaften Lilie, Friede und Zufriedenheit, war eine sehr interessante Entdeckung für mich, denn beide Themen sind auch Teil der Bedeutung der sinnlichen Lilie. Aber während das Gefühl von Friede, die Zufriedenheit der sinnlichen Lilie aus der Zufriedenheit mit den Freuden des Augenblicks erwächst, kommt der Friede der tugendhaften Lilie von ganz einem anderen Ort. Er kommt von der Abwesenheit von etwas: der Abwesenheit von Verlangen. Die Zufriedenheit der tugendhaften Lilie ist die Zufriedenheit einer Person, die frei ist von innerer Aufgewühltheit, einer Person, die von keiner starken Leidenschaft getrieben wird. Anders formuliert: die tugendhafte Lilie ist friedfertig, weil sie (in einem positiven Sinn) leidenschaftslos ist. Sie ist zufrieden, weil sie sich nicht wünscht, dass die Dinge anders wären, als sie sind. Die tugendhafte Lilie fordert uns dazu auf, Frieden zu schließen mit der Wirklichkeit, auch wenn diese nicht perfekt ist. Sie sagt nicht unbedingt, dass wir nicht versuchen sollen, Dinge zu verbessern. Aber sie sagt ganz definitiv, dass es am Ende nicht die Erfüllung unserer Wünsche ist, die uns zufrieden macht (denn sobald unsere Wünsche erfüllt sind, finden wir nur etwas Neues, das wir begehren), sondern unsere Fähigkeit, mit sehr wenig zufrieden zu sein.
Zurückhaltung / Entsagung / Selbstkasteiung: Die zuvor erwähnte Abwesenheit von Verlangen kann eine wunderbare Sache sein. Besonders in der lauten, hektischen, lustorientierten Welt, in der wir leben, ist Zurückhaltung ein wichtiges Schutzschild gegen ungesunden Exzess. Die Lilie repräsentiert Zurückhaltung in all ihren Formen: Mäßigung, Bescheidenheit, Nüchternheit, Fasten, Enthaltsamkeit, Genügsamkeit etc. Die Lilie steht für einen Lebensstil (oder bestimmte Lebensabschnitte), in denen wir sinnliche Genüsse auf ein Minimum beschränken, um uns auszuruhen. Und das ist etwas ungemein positives. Allerdings kann eine Person auch gehemmt und verklemmt werden; unfähig, sinnliche Freuden zu genießen. Manche Menschen vermeiden Sinnesfreuden überhaupt, auf alle Kosten. Während Enthaltsamkeit, Fasten, Genügsamkeit etc. gut und produktiv sein können, sind sie das sicher nicht, wenn sie durch Angst motiviert sind, oder zur Selbstbestrafung gelebt werden. Auch das repräsentiert die Lilie: die sehr schädliche Vermeidung jeden Komforts, jeden Genusses; drakonische Entsagung. Sie kann dumpfe Leidenschaftslosigkeit bedeuten, Frigidität und Kälte. In diesem Sinne kann die Lilie als Warnung verstanden werden. Sie kann uns sagen, dass wir zu hart zu uns selbst sind, uns unnötig selbst kasteien. Und dies ergibt einen weiteren interessanten Anknüpfungspunkt zur sinnlichen Lilie. Wenn die Qualitäten der tugendhaften Lilie zu prominent werden, übertrieben, dann braucht es dringend die Qualitäten der sinnlichen Lilie, um ein gutes Mittelmaß wiederherstellen zu können.
Das Bild:
Die Illustration der tugendhaften Lilie zeigt die klare, kalte Atmosphäre eines eisigen Wintermorgens, an dem noch alles still ist. Die Lilie in dieser Version ist im traditionellen Weiß gehalten, um Reinheit, die Abwesenheit von Leidenschaften und Freiheit von innerem Aufruhr zu symbolisieren. Auch der Hintergrund ist sehr sauber und nüchtern, eher karg; da ist nichts grelles, nichts, das sich den Sinnen aufdrängt. Die Tischplatte ist aufgeräumt, fast leer; nur ein sauberer Krug und ein Glas mit frischem, klarem Wasser. Die Fensterscheiben sind bedeckt mit wunderschönen aber kalten Eisblumen: Jemand lebt sehr einfach, heizt nicht viel. Alles ist sauber und klar, friedlich und durchaus schön. Nichts ist schmutzig, alles ist rein. Aber es herrscht auch Kälte; wörtlich und bildlich gesprochen. Es gibt wenig Anregung für die Sinne; nichts hat den Zweck, Leidenschaft zu wecken. Es gibt keine starken Farben, die den Blick auf sich ziehen würden; keine Objekte, die dazu da sind, Geräusche zu machen. Es gibt nur da kühle, klare Wasser zu schmecken und die frostigen Eisblumen zu berühren.
Wenn Sie es nicht schon getan haben, empfehle ich Ihnen, die tugendhafte Lilie mit der >> sinnlichen Lilie zu vergleichen. Die beiden sind wie Eis und Feuer, wörtlich und bildlich gesprochen.
