Die Bedeutung:
Die üblichen Deutungen, die ich für den Storch fand, waren - überraschend für mich - ziemlich limitiert, wenig dicht. Oft fand ich kaum mehr als "(positive) Veränderung", "Ortswechsel/Bewegung", und die Bemerkung, dass der Storch in Verbindung mit dem Kind Schwangerschaft bedeuten kann. Manchmal gab es zusätzlich noch eine Sammlung physischer Attribute, die auf Störche zutreffen - "groß", "elegant", "lange Beine". Diese sehr limitierten, recht oberflächlichen Deutungen des Storches wunderten mich. Denn daraus, dass Störche Zugvögel sind, die zweimal im Jahr tausende Kilometer zurücklegen, in einem Rhytmus, den die Jahreszeiten vorgeben, ergeben sich noch eine ganze Reihe weiterer Interpretationsmöglichkeiten!
Migration / Übergänge / Reorientierung: Wie gesagt: Störche sind Zugvögel. Der Startpunkt meiner Deutung des Storches ist daher "Migration". Migration kann hier wörtlich verstanden werden - dann steht der Storch für Umzüge, Ortswechsel, Aus- bzw. Einwanderung. Meist ist es für meine konkreten Legungen allerdings nützlicher, Migration bildlich zu verstehen. Hier repräsentiert der Storch nicht Ortswechsel, keine tatsächliche räumliche Veränderung, sondern innere Reorientierung oder nicht-räumliche Übergangssituationen. Diese Reorientierung, diese Übergangssituationen können realtiv alltäglich sein, wenig umfassend. Aber manchmal kann es sich dabei um sehr intensive, lebensverändernde Vorgänge handeln - der Storch kann darauf hinweisen, dass wir dabei sind (oder bald dabei sein werden), völlig neu zu definieren, wer wir sind. Er kann für den Wechsel von einem Geschlecht zum anderen stehen, oder für den Wechsel von einer sozialen Rolle zu einer anderen. Ein weiteres Beispiel ist der Übergang von naiver romantischer Verliebtheit zu bewusster, verantwortungsvoller Liebe - eine oft sehr schwierige Phase in einer Beziehung, in der sie völlig neu definiert werden muss. Zusammengefasst: Der Stroch steht für Schwellenerfahrungen, für Übergänge von einem Zustand, einer Rolle, einer Situation, in eine andere, und für die mentale und emotionale Reorientierung, die damit einhergeht.
Transformation / lange Prozesse: Wie auch der Reiter und das Schiff kann der Storch für Veränderung stehen - und wie sie auch (in meinen Augen) für eine ganz bestimmte Form der Veränderung: Transformation. Etwas, oder jemand, bleibt dieselbe Entität, verändert sich aber radikal; innerlich, äußerlich, oder beides. Während der Reiter auf Veränderungen hinweist, die auf uns zukommen, die in unserer Umwelt geschehen oder von außen in Gang gesetzt werden, und das Schiff für Veränderungen, die wir selbst in Gang setzen, steht der Storch für Transformationen, die von der Natur der sich verändernden Sache selbst angestoßen werden. Das einfachste Beispiel hierfür ist die Transformation des menschlichen Körpers im Reife- bzw. Alterungsprozess. Der Storch kann aber auch für die Transformation von Beziehungen stehen, zum Beispiel die Transformation einer vorher sehr leideschaftlich-sexeuellen Beziehung in eine ebenso leidenschaftliche aber rein platonische; er kann für die Transformation von reiner Sensibiliät in Mitgefühl und Weisheit stehen. Weil die zweimal jährliche Migration des Storches sehr zeitaufwendig ist, und weil der Vogel dabei sehr große Distanzen überwindet, deute ich die Transformationsprozesse, für die diese Karte steht, als sehr lange Prozesse, nicht als schnelle Veränderungen, rasch abgehakte Übergänge. Der Storch sagt mir, dass ja: etwas geschieht, etwas bewegt sich bereits; dass das aber ein fortdauernder Prozess ist, der noch eine ganze Weile nicht zum Ende kommen wird. Der Storch kann als Hinweis gelesen werden, dass ein bestimmter Prozess (emotional oder zeitlich) sehr intensiv werden könnte, viel Energie kosten könnte. Hier kann man den Storch als den Ratschlag verstehen, sicherzustellen, dass wir wissen, wie und wo wir unsere Energiereserven wieder auffüllen können. Er kann uns dazu auffordern herauszufinden, wo wir Unterschlupft finden können, wenn wir Rast brauchen.
Natürliche Kreisläufe / Wiederkehr / Wiederholung: Störche sind Zugvögel. Aber das bedeutet nicht, dass sie immer zu einem ganz neuen Ort weiterziehen. Nein: Ihre Migration folgt einem Zyklus. Störche verlassen ihren Sommerhabitat im Herbst und migrieren zu ihrem Winterhabitat. Diesen verlassen sie im Frühlung, um zum Sommerhabitat zurückzukehren. Deshalb interpretiere ich den Storch oft als natürliche Kreisläufe, als Wiederholungen, als Dinge (oder Personen!), die die Tendenz haben wegzugehen, dann aber wiederzukommen. Der Storch erzählt mir von der Wiederkehr von jemandem, der einmal wegging, von dem Wiederauftauchen bestimmer Gefühle oder Erfahrungen (positiv oder negativ). Und manchmal scheint der Storch dazu aufzufordern, alte Verbindungen wieder aufzunehmen, oder etwas noch einmal zu versuchen, weil es beim nächsten Anlauf vielleicht klappt.
Instinkt / Unvermeidbarkeit / Sehnsucht: Störche migrieren zweimal im Jahr. Sie tun das nicht aus freier Wahl, sondern weil es ihnen ihr Instinkt befielt. In dieser Hinsicht steht der Storch für alles, was wir instinktiv wissen oder tun, für das, was so tief in unserer Essenz verwurzelt ist, dass wir seinem Ruf folgen müssen, wenn wir uns "ganz" fühlen wollen. Der Storch kann bedeuten, dass etwas so essentiell ist, so sehr Teil unserer inneren Natur, dass ein Zuwiderhandeln uns stark schaden würde. Und von einem anderen Blickwinkel aus betrachtet kann der Storch sagen, dass etwas unvermeidbar ist, unausweichlich. Er kann darauf hinweisen, dass wir ganz einfach akzeptieren müssen, was geschieht, dass wir mit dem Lauf der Natur gehen müssen, dass wir nur versuchen können, auf eine produktive Weise zu reagieren, dass wir den Prozess selbst aber nicht lenken können. Der Stroch ist für mich die Karte, die sagt "Go with the flow!". Manchmal müssen wir Dinge ihren natürlichen Lauf gehen lassen. Und das führt mich auch zum letzten Punkt: tiefer Sehnsucht. Der Storch kann fü die fast verzweifelte, allumfassende Sehnsucht stehen, zu sein, was (oder wo es) unsere inneren Natur entspricht. Er repräsentiert den unwiderstehlichen Sog zu dem, was essentiell ist für das Wohlergehen unseres tiefsten Seins.
Das Bild:
Weil meine Interpretation des Storchs mit dessen Natur als Zugvogel beginnt und endet, war es mir wichtig, meinen Storch (einen Weißstorch) nicht nistend oder in einem See watend darzustellen (wie er in vielen anderen Lenormanddecks zu sehen ist). Ich zeichnete meinen Storch hoch oben in der Luft, im Flug, auf seiner Migration. Er überquert gerade die Meeresenge von Gibraltar. Diese Landmarke wählte ich nicht nur wegen ihrer Bekanntheit, sonern weil sie die Grenze zwischen den Kontinenten Europa und Afrika markiert und deshalb ein gutes Symbol für Schwellenerfahrungen, für Transformationen, darstellt. Außerdem ist die Meeresenge von Gibraltar auch tatsächlich Teil der Migrationsroute von Weißsstörchen.
Abgesehen von diesen wenigen Fakten kann ich keine weiteren rational vermittelbaren Erklärungen dieser Illustration geben. Ein Gefühl von Sehnsucht, die Hoffnung auf Wiederkehr, unwiderstehliche Sogwirkung sind hoffentlich alle spürbar, wenn man das Bild auf sich wirken lässt.
